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Sind Corona-Betriebsschließungen und Ausgangsbeschränkungen im Lichte der Verfassung überhaupt zu rechtfertigen?

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„Niemand von uns, die wir in einer Demokratie politische Verantwortung tragen, hat sich gewünscht, je mit solchen Regelungen vor die Bürger treten zu müssen“, so Bundeskanzlerin Angela Merkel am 22.03.2020 kurz nach Verkündung des Kontaktverbots im Kampf gegen das neuartige Coronavirus, welches die Lungenkrankheit COVID-19 hervorruft. Die teilweise tief in die Grundrechte der Bevölkerung eingreifenden Maßnahmen von Bund und Ländern scheinen nach der Entwicklung der  letzten Wochen offensichtlich die einzig richtigen gewesen zu sein, um die weitere Verbreitung des Virus zu verlangsamen bzw. einzudämmen. Gleichwohl darf dabei die verfassungsmäßige Grundordnung und Rechtsstaatlichkeit nicht außer Betracht gelassen werden. Als unabhängiges Organ der Rechtspflege sehen wir uns daher verpflichtet, die Maßnahmen des Freistaates Bayern auch in juristischer Hinsicht zu bewerten und zu überprüfen. Ein Überblick über die Regelungen und deren Wirksamkeit von Rechtsanwalt Martin Kühnlein (Fachanwalt für Verwaltungsrecht).

UPDATE 27.04.2020:
Unsere Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Regelungen der 2. BayIfSMV waren berechtigt: Mit Beschluss vom 27.04.2020 (Az.: 20 NE 20.793) hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof das Verbot des Betriebs von Einzelhandelsgeschäften mit einer Verkaufsfläche von über 800m² (§ 2 Abs. 4 und 5) im Rahmen einer einstweiligen Anordnung für verfassungswidrig erklärt. Die Richter sehen die Ungleichbehandlung mit kleineren Läden als Verstoß gegen das Grundgesetz. (http://www.vgh.bayern.de/media/bayvgh/presse/pressemitteilung_corona-verordnung__2.baylfsmv_.pdf)
Insofern werden die von uns für unsere Mandanten erstellten Eilanträge ebenfalls erfolgreich sein.

Vom Katastrophenfall zum Shutdown

Foto: Rechtsanwalt Martin Kühnlein, Fachanwalt für Verwaltungsrecht (Nürnberg)
RA Martin Kühnlein

Bereits am 16.03.2020 rief der Bayerische Ministerpräsident Markus Söder den Katastrophenfall aus. Aus dem Coronavirus wurde eine länder- und kontinentübergreifende Pandemie, die, wie es scheint, in vielen Ländern nicht mehr zu stoppen ist. Die Regierung musste daher handeln und tat dies genau richtig: Sie ordnete einerseits Ausgangsbeschränkungen und die Schließung sämtlicher Gastronomiebetriebe sowie Hotels, Beherbergungsbetriebe und Ladengeschäfte des Einzelhandels an, andererseits schaffte man es damit, die Verbreitung des Virus deutlich zu verlangsamen und somit dem Gesundheitssystem den notwendigen Vorsprung und die notwendige Vorbereitungszeit zu geben. Dies war ein unumgänglicher Schritt, der – so hofft man – auch noch weiter seine Früchte tragen wird.

Reicht das Infektionsschutzgesetz als Ermächtigungsgrundlage aus?

In juristischer Hinsicht standen die Bundes- sowie die Landesregierungen vor der Schwierigkeit, in der gebotenen Eile die Maßnahmen schriftlich niederzulegen und damit wirksame und formell richtige Rechtsgrundlagen für diese Beschränkungen zu schaffen.
Als Ermächtigungsgrundlage all dieser Regelungen soll das Infektionsschutzgesetz dienen. Doch hier stellt sich bereits die Frage, ob der Gesetzgeber beim Erlass dieses Gesetzes überhaupt den Fall weitreichender Ausgangsbeschränkungen und Betriebsschließungen vor Augen hatte: Denn dort ist lediglich die Rede davon, dass die Behörden „notwendige Schutzmaßnahmen“ zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten treffen dürfen.
In Bayern wurde zunächst auf Grundlage dieses Infektionsschutzgesetzes am 18.03.2020 eine Allgemeinverfügung (BayMBl. 2020 Nr. 152) erlassen, die im Wesentlichen eine weitgehende Reduktion sozialer Kontakte im privaten und öffentlichen Bereich sowie die Schließung sämtlicher gastronomischer Betriebe anordnete. Zwei Antragsteller wehrten sich vor dem Bayerischen Verwaltungsgericht München gegen diese Allgemeinverfügung – das Verwaltungsgericht (VG) München gab diesen jeweils mit Beschlüssen vom 24.03.2020 (Az.: M 26 S 20.1252 sowie M 26 S 20.1255) sogar Recht: Die Allgemeinverfügung wurde aus formalen Gründen den Antragstellern gegenüber außer Kraft gesetzt. Das VG München führte zur Begründung aus, dass die Ausgangsbeschränkung durch eine förmliche Rechtsverordnung hätte geregelt werden müssen.

Die Rechtsverordnungen des Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege

Foto: Rechtsanwältin Annika Orth (Fries Rechtsanwälte, Nürnberg)
RAin Annika Orth

Das Staatsministerium für Gesundheit und Pflege erließ daraufhin noch am selben Tag, am 24.03.2020, eine förmliche Rechtsverordnung (Verordnung über die vorläufige Ausgangsbeschränkung anlässlich der Corona-Pandemie BayMBl. 2020 Nr. 130). Diese Verordnung sollte mit Wirkung vom 21.03.2020 in Kraft und mit Ablauf des 03.04.2020 außer Kraft treten. Der Wortlaut der Verordnung weicht kaum von dem der Allgemeinverfügung ab.
Aber auch diese Verordnung hielt einer gerichtlichen Überprüfung nur bedingt stand: Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in München stellte fest, dass es sich um keine „bewehrte Verordnung“ handele, es also für den Fall der Zuwiderhandlung gegen diese Verordnung weder Straf- noch Bußgeldtatbestände gebe und somit keine wirksame Rechtsgrundlage, beispielsweise für Bußgeldbescheide, bestehe (BayVGH Beschluss vom 30.03.2020, Az.: 20 NE 20.632 Rn. 36 f.).
Der weiteren Ausbreitung und Entwicklung des Virus geschuldet, sah sich das Staatsministerium für Gesundheit und Pflege in der Folgezeit gezwungen, eine weitere Verordnung über Infektionsschutzmaßnahmen anlässlich der Corona-Pandemie (kurz: BayIfSMV, veröffentlicht im BayMBl. 2020 Nr. 158) zu erlassen, welche ab 31.03.2020 bis einschließlich 19.04.2020 gelten sollte. Mit dieser Verordnung wurde u.a. festgelegt, dass jeglicher Gastronomiebetrieb, Betrieb von Hotels und Beherbergungsbetrieben sowie die Öffnung von Ladengeschäften des Einzelhandels jeder Art untersagt wird. Vorgesehen war dort außerdem eine Regelung, welche diese Untersagung bereits mit Ablauf des 03.04.2020 wieder außer Kraft setzte. Dies hätte eigentlich zur Folge gehabt, dass zu diesem Zeitpunkt Gastronomiebetriebe, Beherbergungseinrichtungen sowie Ladengeschäfte des Einzelhandels jeder Art wieder hätten öffnen dürfen …
Eine Abänderung oder Richtigstellung dieser Regelung wurde auch in der darauffolgenden Verordnung zur Änderung der Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (BayMBl. 2020 Nr. 152), die am 01.04.2020 in Kraft trat, nicht vorgenommen. Die Änderungsverordnung diente nur der Darlegung einiger redaktioneller Änderungen sowie der von da an geltenden Bedrohung mit Strafe oder Bußgeld bei Zuwiderhandlungen.

Die 800m²-Regelung in der Zweiten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung – viele offene Fragen

Inzwischen wurde am 16.04.2020 die Zweite Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (2. BayIfSMV, BayMBl. 2020 Nr. 205) erlassen, die weiterhin ein physisches Kontaktverbot von mehr als zwei Personen bestimmt und nur stufenweise eine Wiedereröffnung von Ladengeschäften vorsieht. Auch die damit einhergehenden Regelungen zur Öffnung von Betrieben und Ladengeschäften bis zu 800 m² Verkaufsfläche lassen viele Fragen offen und geben vielen Unternehmen das Gefühl einer Ungleichbehandlung und Einschränkung ihrer Berufs- und Gewerbeausübungsfreiheit. Nicht ganz unberechtigt, wie beispielsweise das Verwaltungsgericht Hamburg am 21.04.2020 hinsichtlich des Eilantrags eines Sportwarengeschäfts in der Hamburger Innenstadt feststellte (Az.: 3 E 1675/20). Nach Auffassung des Gerichts verletze die 800m²-Regelung die Berufsfreiheit der Antragstellerin und sei zudem nicht geeignet, dem Zweck des Infektionsschutzes zu dienen. Vorgaben zur Eindämmung des Coronavirus ließen sich in großflächigen Handelsgeschäften ebenso gut – wenn nicht sogar besser – einhalten als in kleineren Einrichtungen.

Fazit: Grundrechtseingriffe müssen verhältnismäßig sein

Ausgangsbeschränkungen sowie die Untersagung jeglicher Betriebe stellen sehr schwerwiegende Eingriffe in die Grundrechte von Menschen und Betrieben dar, sind allerdings unter außergewöhnlichen Umständen ausnahmsweise möglich. Als erster Schritt ist eine Rechtsgrundlage notwendig. Eine mögliche Rechtsgrundlage allein reicht aber noch nicht aus. Jeder Grundrechtseingriff muss „verhältnismäßig“ sein. Vereinfacht gesagt: Er darf nicht übertrieben hart sein.

Dafür hat sich ein Katalog von Kriterien etabliert. Die Maßnahme muss einem legitimen Zweck dienen. Das ist hier der Gesundheitsschutz der Allgemeinheit. Sie muss geeignet und erforderlich sein, um den Zweck zu erreichen. Erforderlich bedeutet: Gibt es ein milderes Mittel, mit dem man den Zweck genauso gut erreicht?

Bei diesen schwierigen Abwägungen sind die Behörden selbstverständlich auf die Einschätzung von Experten angewiesen. Hier kann auch eine Rolle spielen, wie die bisherigen Verbote in der Praxis funktionieren.
Aufgrund der Dynamik der Regelerfordernisse gab es in kurzer Zeit die oben aufgezeigten zahlreichen Regelungen und die daraus resultierenden Unklarheiten und Probleme.

Rein aus juristischer Sicht betrachtet, ist es nicht ganz eindeutig und lässt durchaus auch Zweifel zu, ob die von der Landesregierung erlassenen Regelungen als wirksame Rechtsgrundlagen für Ausgangsbeschränkungen sowie Betriebsschließungen dienen konnten und können, was im Einzelfall genauer überprüft werden sollte und auch bei gerichtlicher Auseinandersetzung denkbaren Erfolg versprechen kann.

Sind Sie von Betriebsschließungen oder von anderen Maßnahmen betroffen? Für ein unverbindliches Erstberatungsgespräch steht Ihnen unser Team jederzeit gerne zur Verfügung. Ihr Ansprechspartner bei Fragen: Martin Kühnlein, Fachanwalt für Verwaltungsrecht

 

Text: Martin Kühnlein, Rechtsanwalt | Fachanwalt für Verwaltungsrecht und Annika Orth, Rechtsanwältin
Titelbild: Bearb., Photo by Tim Mossholder on Unsplash

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